„Aktion Erntefest“ – eines der größten NS-Massaker am 3./4. November 1943

„Üblicherweise wird das Bild- und Tonmaterial, das bei einem Film am Ende unverwendet bleibt, vernichtet. Diesmal sollen die Berichte der letzten Überlebenden des unbegreiflichsten und entsetzlichsten Kapitels deutscher Geschichte als unwiederbringliche Zeugnisse erhalten werden.“

Hat Eberhardt Fechner gesagt und die 147 000 Meter Material, die in seinem Dokumentarfilm über den Majdanek-Prozess keine Verwendung gefunden haben, im Bundesarchiv in Koblenz eingelagert. Ich möchte diesen 147 000 Metern noch ein paar weitere hinzufügen.

Weil in Chicago eine Frau herumläuft, die dreißig Jahre nach Kriegsende einen Dackel spazieren führt, den sie nach dem Stellvertreter des Reichskommissars für die Festigung Deutschen Volkstums in Lublin benannt hat. Weil ein paar Fragen unbeantwortet geblieben sind. Und nicht jeder in den Zeugenstand gerufen worden ist, der dort etwas beizutragen gehabt hätte. Und weil die, die das könnten, sich bis heute der Geheimhaltungsvereinbarung verpflichtet fühlen, die sie damals unterschrieben haben:

Einen, der seine Unterschrift unter diese Erklärung gesetzt hat, habe ich das letzte Mal gesehen, als er auf einem grünen Lawnboy-Aufsitzrasenmäher saß und den Frauen in der Küche seines Bungalows in Dallas zugewinkt hat. Diesen Mann möchte ich von seiner Schweigepflicht entbinden. Ich erlaube mir, ihn zu duzen. Denn er ist mein Vater.

Warst du in Polen in den Blaubeeren? Kennst du die besten Blaubeerstellen von Zamość? – Ich wäre gerne durchs Unterholz gekrochen, um sie mir zeigen zu lassen. Dafür hätte ich sogar in Kauf genommen, dass an den Dorfstraßen Kinder stehen, die meinen VW-Bus im Vorbeifahren mit Steinen beschmeißen. Wegen des deutschen Kennzeichens. Ich hätte Zamość gerne über seine Blaubeerwälder kennengelernt. Nicht über die Dinge, die dich mit Zamość verbinden. Wir wissen beide, dass das keine Blaubeeren sind.

`Don´t upset your father with that awful war´, hat Cynthia mich ermahnt, als ich vor meinem Aufbruch nach Deutschland nochmal bei euch in Dallas war. Und sie hatte recht, es war upsetting, was ich dann in Düsseldorf erfahren habe. Über Lublin. Über Zamość. – Zuckst du zusammen, wenn du diesen Namen hörst? Fragst du dich, woher ich diesen Namen habe? Ich habe nicht nur den Namen, Papa. Ich war dort. Und das nicht, um in den Wäldern nach Stellen zu suchen, von denen Jerzy mir erzählt hat. Den Stellen mit den besten Blaubeeren. Die besten Blaubeeren von Himmlerstadt. – Jetzt zuckst du zusammen, stimmt´s? Du weißt, warum man dort Steine nach einem VW-Bus mit deutschem Kennzeichen schmeißt. Und dabei den Hitlergruß macht. Dass Zamość nicht als Himmlerstadt in die Geschichtsbücher eingegangen ist, verdankt sich doch nur dem Umstand, dass ein Nazi-Alphatierchen seine feuchten Träume von der Germanisierung nicht gegen ein anders Nazi-Alphatierchen durchsetzen konnte. Dir hat man die Geschichte natürlich anders verkauft. In der offiziellen Reisewerbung verkauft der Kaffeefahrtveranstalter dir und den anderen 60.000 Neu- und Umsiedler aus Bosnien und dem Banat Zamość als erstes zur Regermanisierung freigegebenes Siedlungsgebiet. Statt mit Heizdecken und klimatisierten Reisebussen ködert man euch mit betriebsbereiten Höfen und Äckern samt Vieh und Hausstand. Was der Reiseprospekt verschweigt: bevor ihr auf den neuen Besitztümern den Hauseigner geben könnt, steht eine Partie Schach an, müssen ein paar Bauern vom Feld geräumt werden. 110.000 Bauern, um genau zu sein. 110.000 polnische Bauern, deren  Besitz ihr regermanisieren, deren Kaffeekannen ihr zur Entschädigung der von euch zurückgelassenen  übernehmen solltet. – Aber ich will nicht ungerecht sein, so weit hast du nicht gedacht,schließlich tobt auch da, wo du herkommst, der Krieg um die Bienenstöcke und die Höfe und die Zugehörigkeit und die Heimat, da hast du andere Sorgen als über polnische Bauernopfer nachzudenken. Lass uns also die unlautere Werbung überspringen. Du hast die Kaffeefahrt gebucht und mich mit Mama in einem Übergangslager zwischengeparkt, wo wir den Tag herbeisehnen, an dem du uns nachholst an diesen Ort, der bisher nur aus sechs Buchstaben besteht. Zamość. Soweit kann ich dir folgen.

Lass mich die Frage anders stellen. War sie kalt, die Nacht Ende November, in der Ordnungspolizei, SS, örtliche Luftwaffengarnisonen und Wehrmacht die Dorfbewohner zusammengetrieben und in vier Kategorien eingeteilt hat? Wer arbeitsfähig ist und Glück hat, dem wird Wiedereindeutschungsfähigkeit attestiert. Wer nur arbeitsfähig ist, wird zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschickt. Für die dritte Kategorie – älter als 60 oder jünger als 14 – sind die Rentendörfer vorgesehen. Ich bin sicher, du kennst den Begriff von einer deiner Listen. Rentendörfer, aparter Begriff für die ehemals jüdischen Siedlungen, deren Bewohner nicht rechtzeitig verhungert sind. Worauf man leider keine Rücksicht nehmen konnte, man brauchte sie ja, die Dörfer, weswegen also diejenigen, die nicht rechtzeitig verhungert sind, es in Belzec, Sobibor und Treblinka weiter versuchen durften, damit in den freigewordenen Rentendörfern im Winter 1942 polnische Kinder und alte Menschen erfrieren und verhungern konnten. Kein deutsches Geschichtsbuch und kaum eine deutsche Ermittlungsbehörde kennt die Rentendörfer von Himmlerstadt.

Die vierte Kategorie hingegen, Kriminelle und Asoziale, erweist sich als Propagandavolltreffer, der sich, anders als das Euthanasieprogramm, der Zustimmung  der Bevölkerung sicher sein konnte. Kinder, selbst als `lebensunwert´  gestempelt, wegzuspritzen, ging gar nicht, aber bei Kriminellen und Asozialen stellt sich keine Gewissensfrage, die gehören in Lager, das lässt sich auch 40 Jahre später noch ohne Skrupel öffentlich zugeben, da braucht niemand Angst vor den Geschichtsbüchern zu haben, Kriminelle und Asoziale gehören weggesperrt.

Lagereingang KZ Lublin Majdanek

Aber lass mich, um nicht ungerecht zu werden, den historischen Kontext zurück aufs Spielbrett holen. Hattest zwar anders als die polnischen Bauern ganz klar die bessere Spielfigur, aber auch nur begrenzte Zugmöglichkeiten. Warst ja selber nur auf Widerruf da, auf Bewährung, konntest froh sein, dass sie dich haben mitspielen lassen, einen Volksdeutschen. So hat man es euch doch verkauft, ich habe die Archive durchforstet, ich kenne das Skript. Das allen außerhalb des Reichs lebenden Volksgenossen unterstellt, der drohenden Entvolkung zu erliegen. Worin auch diese ominöse Entvolkung bestehen soll, ich bin sicher, dass sie nicht deine größte Sorge war. Als deine Tochter ahne ich, dass eher die Konsequenzen der in Jugoslawien einmarschierenden Wehrmacht deinen Blick für die Notwendigkeit, ein One-Way-Ticket zu lösen und als Sachbearbeiter der Volksdeutschen Mittelstelle mit dem Ausfüllen von Registrierbögen seinen Dienst im Generalgouvernement zu tun.

Du kannst nicht jeden einzelnen der 20.000 Streudeutschen kennen, die im Oktober 1942  in Sammellagern der Volksdeutschen Mittelstelle auf die Zuweisung der Höfe warten, mit denen man sie geködert hat, und selbst wenn dir der ein oder andere Name vertraut vorkommt,  musst du das verdrängen in deiner Dienststube, in der du Listen ausfüllst, während deine Frau im Sammellager der Umwandererzentralstelle um einen Platz am Kochfeld ansteht, auf den sie  ihre Blechkanne stellen kann, während in deiner Dienststube der Ofen nicht richtig heizt und die Zeit nicht vergehen will und du dich an deinen Listen festhältst. Da hat man an anderer Stelle längst gemerkt, dass mit den Umsiedlungen gewaltig was schief läuft: von ihren Höfen vertriebene polnische Bauern liefern keine Nahrungsmittel an die Besatzungsbehörde ab. Auf ihren neuen Höfen vom polnischen Widerstand angegriffene Volksdeutsche liefern keine Nahrungsmittel an die Besatzungsbehörde ab. Das bringt den Zivilgouverneur des Distrikts Lublin erheblich in die Bredouille. Wie soll er denn so das Ostheer angemessen versorgen? Im Interesse der Nachschubsicherung fordert er die sofortige Einstellung der Umsiedlungen. Woraufhin der Höhere SS- und Polizeiführer Krüger dem gemeinsamen Vorgesetzten, dem Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, meldet, meldet, dass der Gouverneur die Umsiedlungen behindert. Der Reichskommissar ist not amused über die Hahnenkämpfe seiner Dienststellenleiter. Sein feiner Plan geht nicht auf und im Generalgouvernement alles drunter und drüber, die vertriebenen Polen, im Widerstand zusammengerottet, die   Volksdeutschen, entweder seit Monaten in Sammellagern ihrer Ansiedlung harrend, oder auf ihren neuen Höfen nicht enden wollenden Überfällen durch den bewaffneten Widerstand ausgesetzt. Der ganze schöne Plan geht nicht auf, und so beschließt der Reichskommissar, seine kostbaren neuen Siedlungen mit einem Ring aus mit Ukrainern zu besiedelnden Dörfern zu schützen, was einmal mehr die Vertreibung der ursprünglich ortsansässigen Bevölkerung beinhaltet. – Hast du das auch registriert? Oder lediglich neue Listen erstellt, diesmal mit ukrainischen Namen und Hofzuweisungen? Nein, bei der Haus- und Hofpolitik haben sie kein glückliches Händchen, die mit der Umvolkung beauftragten Funktionäre. Irgendwann musst du den ganzen Budenzauber doch durchschaut haben. Irgendwann kann selbst dir nicht mehr entgangen sein, dass ihr Volksdeutschen für die Herrenrasse nichts weiter wart als nützliche Trottel, denen man die Drecksarbeit zuschustert, um sich selber die Finger nicht schmutzig zu machen. Muss ich mir meinen Vater wirklich als einen vorstellen, der mit der Bereitschaft, sich seine Blutgruppe eintätowieren zu lassen und als Sachbearbeiter mit dem Ausfüllen von Registrierbögen seinen Dienst zu tun, auch seine Fähigkeit zum klaren Denken abgegeben hat?

Lublin, Befehlshaber und Funktionäre der Aktion Reinhardt

Wer Registrierbögen ausfüllt, trifft keine Selektion, wer Registrierbögen ausfüllt, entscheidet nicht über Leben und Tod, nicht, ob das Ticket ins Reich oder ins Rentendorf ausgestellt wird. Wer Registrierbögen ausfüllt, füllt Registrierbögen aus und hat kein Blut an den Händen und nichts mit den Bestien gemein, die in Düsseldorf vorgeführt werden, weil sie in Majdanek als Aufseher gearbeitet oder bei Erschießungen Spalier gestanden oder die Schellackplatte auf dem Grammophon ausgetauscht haben. Wer Registrierbögen ausfüllt, ist nicht für das Timing verantwortlich, muss nicht dafür sorgen, dass die Vertreibung der polnischen Bauern von ihren Höfen synchron abläuft mit der Ausgabe von Proviantbeuteln an die Umsiedler, damit die Fütterung und Melkung auf den Höfen nicht ins Stocken gerät, vom reibungslosen Betrieb der Höfe hängt die Versorgung der Truppen an der Ostfront ab, so eine Umsiedlungsaktion ist keine Landpartie. Sie erfordert Hofzuweisungslisten, sie erfordert die Erfassung beschlagnahmter Höfe, Betriebe und Wohnungen mitsamt des zurückgelassenen Vermögens, vor allem aber erfordert sie Menschen, die bereit sind, den Blick auf ihre Formulare zu senken, wenn vor dem Fenster ihrer Dienststuben diejenigen vorbeigetrieben werden, deren Feuerstellen in den gerade erfassten Höfen noch glimmen.

Ich weiß nicht, Vater, aber haben sich dir nie Zweifel an der Intelligenz der führenden Nazis aufgedrängt, nicht spätestens am 30. Juni 1943, als das Generalgouvernement zum Bandenkampfgebiet erklärt und die Aktion Zamość endgültig abgebrochen wird, als man dich anweist, deine Listen wegzuschließen und nach Lublin beordert, ins Versuchslabor der `Aktion Reinhardt´, wo es den Vasallen eines Odilo Globocnik gestattet ist, in Eigenregie Ghettos zu errichten und Zwangsabgaben zu dekretieren, vorzugsweise Pelze und Diamanten, und die Nullversorgung der jüdischen Bevölkerung der puren Willkür entfesselter Kreishauptmänner entspringt. Nach Lublin, wo es, so sekundiert der Baedeker den Kaffeefahrtversprechungen, mit denen man dich hierher gelockt hat, seit 1942 keine Juden mehr gibt. Ins Versuchslabor der `Aktion Reinhardt´, wo seinen Ausgang nimmt, was Anfang der 60er Jahre unter den staunenden Blicken der Ludwigsburger Vorermittlungsbehörde Stück für Stück ans Licht kommt. Ein solches Versuchslabor funktioniert nicht ohne Menschen wie dich, die akribisch Dinge in Listen eintragen, ohne nach deren Herkunft zu fragen. Man stellt dir einen Tisch auf in der Chopinstraße, auf dem du deine Listen ausbreiten kannst, weist dir zwei Mitarbeiter zu und eine Wohnung im  Deutschen Distrikt.

Lublin, Warenlager Chopinstraße, geraubtes Eigentum ermordeter oder ins KZ deportierter Juden

Deine Frau, die in ihrer Baracke im Umsiedlerlager Litzmannstadt monatelang mit geschlossenen Augen und der Hand auf dem wachsenden Bauch in  kleinen Schlucken den Aufguss von zerstoßenen Kastanien aus ihrer Blechtasse getrunken und dabei an Bohnenkaffee gedacht hat, stört es nicht, dass die Wohnung, die man der bald vierköpfigen Familie zuweist, unter dem Dach, die Küche winzig und die Wandfarbe grünlich ist. Die Wohnung liegt im neuen deutschen Bezirk, auf halber Treppe gibt es ein Klo, das nur mit den übrigen Hausbewohnern, in der Küche einen Herd, der mit niemandem geteilt werden muss. Auch für mich muss eine Zeit der Seligkeit begonnen haben, aus einem Umsiedlerlager mit Latrinen und hysterischer schwangerer Mutter  komme ich in ein Paradies mit eigenem Klo auf halber Treppe, echten Sahnetorten hinter gläsernen Vitrinen und einem deutschen Lichtspieltheater. Ich beziehe einen winzigen Verschlag unter der Dachschräge, vom Bett aus fällt mein Blick auf meine an die Wand gehefteten Göttinnen, Zarah Leander und Pola Negri, durch die Dachluke sehe ich nachts die Sterne und tags, wenn ich mich aufs Bett knie, das neue Sportstadion auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Unter der Aschebahn, auf der die Deutschen ihre Runden ziehen, der jüdische Friedhof, dessen Grabsteine man als Baumaterial für die  neue Siedlung verwendet hat. Anderswo, so würde man mir erklärt haben, mauert man lebendige Hühner ins Fundament. Als Bauopfer, damit ein Haus Bestand hat. Aber im Sommer 1943 gibt es nichts zu erklären.

Weswegen auch die Frau, die eben noch mit geschlossenen Augen im Umsiedlerlager von echtem Kaffee träumte, während ihr Mann, der in seinem Leben keinen Kaffee selber gekocht hat, in Lublin Kaffeeservices registriert, nicht nachfragt. Nicht nachfragt nach der Herkunft der Kaffeekannen und Kaffeetassen und Unterteller und Milchkännchen, die ihr Mann in Lublin umdreht, um die Aufdrucke auf der Unterseite zu erfassen. Rosenthal, Meißner, Walbrzych, Karlsbader, Hutschenreuther, auch Porzellan kommt in diesen Tagen nicht ohne Herkunftsnachweis aus, in dieser Zeit, in der deine Frau, Größe 1,64 m, Haltung aufrecht, körperlich kräftig, geistig unauffällig, durch die fliegende Kommission der Einwandererzentralstelle im Schnellverfahren eingestuft als `Mischrasse´, was ihr artverwandtes, aber nicht stammesreines Blut attestiert und eine Einbürgerung `auf Widerruf´ bedeutet, deine Frau, die mit der Hand auf dem schwangeren Bauch von echtem Kaffee träumt und nichts weiter will, als es einfach wieder schön haben, ein Leinentischtuch auf dem Tisch, um die Kaffeekanne darauf zu stellen, für ihren Mann, wenn der von der Arbeit nachhause kommt, von seiner Arbeit als Sachbearbeiter für den Reichskommissar für die Festigung Deutschen Volkstums in Lublin. Denn das sind wir jetzt. Anerkanntes Deutsches Volkstum. Wenn auch noch auf Bewährung, aber dass du dich bewährst, dafür wird deine Frau schon sorgen. Da fragt sie auch nicht, auf wessen Tisch das Porzellan, das du da sortierst und registrierst, wohl vorher gestanden haben mag.

Und so kehrt fast so etwas wie Familienalltag ein. Für mich wird ein Platz im deutschen Turnverein gefunden, die besten Schmalzkringel gibt es an der Bäckerei am Sportstadion, dessen Aschebahn ich von meinem Dachfenster aus sehe, und an besonders guten Tagen zauberst du nach der Arbeit lächelnd eine schwarz-weiße Autogrammpostkarte für mich aus deiner Tasche. Morgens drückst du den Korken in die Isolierkanne, die deine Frau dir mit echtem Bohnenkaffee befüllt hat, läufst zehn Minuten durch den Stadtpark in die Chopinstraße, holst die Isolierkanne aus der Aktentasche und deine Listen aus der Schublade und verbringst den Tag damit, Kleidungsstücke, Wertsachen und andere Habseligkeiten zu erfassen, die bei der Durchführung der `Aktion Reinhardt´ anfallen. – Hast du´s gemerkt? Ich habe `anfallen´ geschrieben. Dabei fallen die nicht an. Die bleiben übrig, weil man ihre jüdischen Besitzer ermordet. Aber mit ermordeten Menschen hast du nichts zu tun und die einzigen Menschen, nach denen ich frage, die rauchenden, mageren Männer hinter dem Zaun auf dem Gelände der ehemaligen Kosmetikfabrik, die hinter dem Stadion liegt, dessen Aschebahn ich von meinem Dachfenster aus sehe, nennst du Arbeiter und lässt den Zwang davor weg. In den Fabrikhallen, in denen schon lange keine Kosmetikartikel mehr hergestellt werden, lagern künstliche Gliedmaßen, Prothesen für die Soldaten, denen an der Front ein Bein abhandengekommen ist. Ich soll da nicht lang gehen, sagst du, und weil die abgemagerten Männer mir sowieso unheimlich sind, bleibe ich auf der anderen Straßenseite, gucke starr geradeaus und versuche, an Schmalzkringel zu denken, und nicht an künstliche Gliedmaßen.

KZ-Aufseherinnen beim Abtransport von Leichen

Nein, dem Anblick von Menschen musstest du dich nicht aussetzen. Mit Menschen hattest du nichts zu tun. Nicht mit Zwangsarbeitern, nicht mit Arbeitsjuden, und mit toten Juden schon gleich gar nicht. Hätte man mich dazu in den Zeugenstand gerufen, ich hätte wenig über Menschen zu sagen gewusst. Woran ich mich erinnere, sind Gegenstände. Schmalzkringel. Kuchenstücke. Kaffeekannen. Autogrammkarten. Die Menschen, deren angefallene Kleidung du erfasst, bekomme ich nicht zu Gesicht. Die Arbeitsjuden, die im Flugplatzlager in den Baracken der SS-Bekleidungswerke schuften, bekomme ich nicht zu Gesicht. Davon, dass die dort bei der Dachpappeproduktion eingesetzten Häftlinge den frischen, heißen Teer mit bloßen Händen auf die Pappe streichen müssen, erfahre ich erst vierzig Jahre später aus den Aussage von SS-Mann Erich Bauer. SS-Mann Erich Bauer, der sieht, wie sich das rohe Fleisch von ihren Fingern löst, so dass die nackten Knochen zu sehen sind. – Ich weiß, dass du nicht SS-Mann Erich Bauer gewesen bist und nicht im SS-Produktionsbetrieb für Dachpappe gearbeitet hast und deswegen diese schlimmen Verhältnisse gar nicht mitbekommen haben kannst. Verzeih. Ich bin aufgebracht und ungerecht. Du sitzt ja tagein, tagaus an deinem Schreibtisch in einem fünfstöckigen Warenhaus im Stadtzentrum, das der SS-Standortverwaltung Lublin als Erfassungslager für beschlagnahmtes Feindvermögen dient. Das dreißigköpfige Häftlingskommando, das dort unter Aufsicht der Herren Eichholz und Dorl  in der Abteilung IVa das jüdische Vermögen sortiert, wird gut behandelt, soweit du das von deinem Schreibtisch aus beurteilen kannst. Manchmal hört ihr dabei Zarah Leander auf einem beschlagnahmten Grammophon. 

Davon geht die Welt nicht unter, noch vierzig Jahre später hält Cynthia dich für einen fortschrittlichen Mann, weil du darauf bestehst, dass du die Wäsche vor dem Waschen sortierst, und auch ich erinnere mich aus unserer Zeit in Chicago an deine Wäschelisten, jede Neuanschaffung musste von dir bewilligt werden, jede aussortierte Socke mit Lineal und Bleistift penibel aus deinen Listen gestrichen. Du hast Wäsche registriert, for god´s sake, davon geht die Welt nicht unter, das hättest du auch den Ludwigsburger Vorermittlungsbehörden zu Protokoll gegeben, hätten sie dich je befragt, deine Zuständigkeit erstreckte sich auf  die Registrierung der gemäß vorab festgelegter Richtlinien an die Volksdeutsche Mittelstelle abzuführenden Bekleidung, Wäsche, Schuhzeug und  Haushaltswaren. Für eine gebrauchte Männerhose sind drei Mark zu veranschlagen, sechs Mark für eine Wolldecke, Einheitspreise auch für Bettlaken, Bettbezüge, Kopfkissen, Handtücher, Wischtücher, Tischdecken, Schuhzeug, Frauen- so wie Kinderkleidung, Judensterne sind vorher abzutrennen.

Nicht zuständig, so teilt man dir gleich bei der Einweisung mit, bist du für Goldstücke und Silbermünzen, die täglich körbeweise angeliefert und in der betriebseigenen Gießerei zu Barren geschmolzen werden, bevor sie an die Reichsbank abgeführt werden. Für Edelmetalle, Zahn- und Bruchgold ist ein niederrangiger Volksdeutscher, Verwaltungserfahrung und SS-Mitgliedschaft hin oder her, ebenso wenig zuständig wie für die Schachteln mit den Perlen, Diamanten und Juwelen. 2.500 Kilo Gold, 20.000 Kilo Silber, sechseinhalb Kilo Platin, 60.000 Reichsmark in Devisen, 800.000 Dollar Bargeld und 144.000 Golddollar wirft das `Unternehmen Reinhard´ bis 1943 ab, erfährt der Teil der staunenden Öffentlichkeit, der sich dafür interessiert, später aus dem legendären Francke-Gricksch-Report. Aber auch ohne Gold, Silber und Juwelen bleibst du ja immer noch Herr über Füllfederhalter, Drehbleistifte, Rasierapparate, Taschenmesser, Scheren, Taschenlampen, Brieftaschen und Geldbörsen, Wecker und Uhren jeder Art, nach ihrer Instandsetzung durch Spezialwerkstätten zu reinigen, zu schätzen und unverzüglich der Fronttruppe zuzuführen, jeder Mann nur eine Uhr und goldene Uhren behält sich der Generalgouverneur zur persönlichen Verwertung vor.

Federbetten, Steppdecken, Wolldecken, Anzugstoffe, Schals, Schirme, Stöcke, Thermosflaschen, Ohrenschützer, Kinderwagen, Kämme, Handtaschen, Ledergürtel, Einkaufstaschen, Tabakpfeifen, Sonnenbrillen, Spiegel, Bestecke, Rucksäcke, Koffer aus Leder und Kunststoffen sind der Volksdeutschen Mittelstelle zu überstellen, ein Eigenbedarf an Steppdecken, Wolldecken, Thermosflaschen, Ohrenschützern, Kämmen, Bestecken und Rucksäcken darf gegen Vergütung aus Haushaltsmitteln entnommen werden. Edelpelze sind dem SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt abzuliefern, unedle Pelze (Schaf, Hase, Kaninchen und dergleichen) dem Bekleidungswerk der Waffen-SS in Ravensbrück. Eine Ausnahme macht das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt bei reinseidener Wäsche, die ist direkt ans Reichswirtschaftsministerium abzugeben. Manchmal machst auch du eine Ausnahme. Dann freut sich deine Frau.

Mit einem wie dir lässt sich vielleicht nicht gleich ein neuer Staat machen, aber zumindest dafür sorgen, dass die Raubgüter des alten penibel registriert werden und in den richtigen Händen zum Einsatz kommen. In den Händen deiner Frau zum Beispiel. Die Eigenbedarfsregelung legst du großzügig aus, und überhaupt, so viele Listen, so viele Spalten, so viele Ausnahmeregelungen. Da können selbst einem erfahrenen Verwaltungsspezialisten Fehler unterlaufen. Zumal, wenn dir diese Fehler die Gunst deiner Frau eintragen, die auch ein Dreivierteljahr nach der Geburt des zweiten Kindes eher sparsam mit ihrer Gunst umgeht und sich immer häufiger im Deutschen Haus aufhält, wo die livrierten Kellner sie wie eine Dame behandeln und die uniformierten SS-Männer ihrem weiblichen Begleitpersonal gerne eine Schale Sekt oder ein Likörchen spendieren.

Hildegard Lächert, bekannt als die „blutige Brygida“, Aufseherin im KZ Majdanek

Dass die bildschöne Hildegard mit den hohen Wangenknochen, bei deren Eintritt die Kapelle jedes Mal unaufgefordert ihren Lieblingsschlager spielt, es sich 1943 leisten kann, im Deutschen Haus Schwarzwälder Kirschtorte zu bestellen, weil sie als Aufseherin im Lager Majdanek viermal so viel verdient wie zuvor als Fabrikarbeiterin, vierzig Jahre später in Düsseldorf von überlebenden Lagerinsassinnen als die `Blutige Brygida´ identifiziert wird, die auch schon mal ihren Schäferhund auf eine Schwangere hetzt, das weiß die Frau, die sich allmählich nicht mehr mit deiner Auslegung der Ausnahmebestimmungen begnügt und nicht mit dem Bohnenkaffee, den sie dir aus der Porzellan- in die Thermoskanne umfüllt, die Frau, die vierzig Jahre später ihren Dackel Odilo nennen und sich nicht mehr an die Beschaffenheit der Kirschen auf den Sahnehäubchen der Tortenstücke im Deutschen Haus erinnern wird, all das weiß sie nicht an diesem Mittwoch im November, an dem man dich gleich bei deiner Ankunft in der Chopinstraße darüber informiert, dass das Sortierkommando aus der Lipowastsraße heute nicht zur Arbeit gekommen ist, aber unten im Lager, den Rest übertönt der laufende Motor des abfahrbereiten Autos, in das einzusteigen man dich einlädt, und das ist nicht der einzig ungewöhnliche Soundtrack, der am 3. November 1943 über diesem Morgen in Lublin hängt, es braucht eine Weile, die verwehte Musik kommt nicht aus dem Grammophon aus der Erfassungsstelle für Feindvermögen, die Melodiefetzen scheinen aus irgendwelchen weit entfernten Lautsprechern herüber zu wehen.

„Freut eu-heuch des Lebens, weil no-hoch das Lä-hämpchen glüht“, ungeduldig gestikulieren die Männer im  abfahrbereiten Auto dir zu, endlich einzusteigen, du winkst ab, freut euch des Lebens, denkst du und dass deine Frau dein Lämpchen mal wieder zum Glühen bringen könnte, bei all den Ausnahmebestimmungen, die du zu ihren Gunsten ausgelegt hast, an diesem Mittwoch im November, an dem der laufende Dieselmotor und die Lautsprechermusik es dir unmöglich machen, zu verstehen, was da unten im Lager vor sich geht, an diesem Mittwoch im November, an dem ich auf den feuchten Blättern ausrutsche und beim Hochrappeln auf der gegenüberliegenden Straßenseite keine rauchenden Männer mehr am Zaun sehe und mich über die Musik wundere, die in der Luft zu liegen scheint, als ich mit einem nassen Handtuch um den geschwollenen Knöchel vor dem Frisierspiegel den tragischen Blick einer Zarah Leander zu kopieren versuche und dabei mitsumme, was aus weiter Entfernung über die Stadt weht, „freut eu-heuch des Lebens, weil no-hoch das Lä-hämpchen glüht“…

„In einer planmäßig vorbereiteten Aktion, die den Decknamen `Aktion Erntefest´ trug, wurden am 3. und 4. November 1943 sämtliche Insassen der Arbeitslager Trawniki, Poniatowa und dem KZ Majdanek von Angehörigen unbekannt gebliebener Dienststellen oder Einheiten an vorher vorbereiteten Gruben oder Gräben erschossen. Insgesamt wurden bei dieser Erschießungsaktion etwa 42.000 Juden getötet.“, beschreibt ein Vermerk der Staatsanwaltschaft Dortmund zwanzig Jahre später, was sich hinter der Gratis-Beschallung der Bevölkerung von Lublin zu verbergen suchte. Die Details des Grauens kannst du den Ermittlungsakten entnehmen. Deren ermittelnden Instanzen auch du, hätte man dich befragt, zu Protokoll gegeben hättest, was alle im Rahmen der Vorermittlungen Befragten zu Protokoll gegeben haben: An Exekutionen nicht beteiligt gewesen zu sein. Von ihrer Durchführung keine und wenn, dann nur vom Hörensagen, Kenntnis gehabt zu haben. Von Konzentrationslagern bis nach dem Krieg keine Kenntnis gehabt geschweige denn je eines betreten zu haben. Vom sogenannten `Einsatz Reinhardt´ keine Kenntnis respektive selbige erst durch diese Befragung erlangt zu haben. Dass, selbst wenn irgendwelche dieser haarsträubenden Vorgänge, die sich bis zum jetzigen Zeitpunkt deiner Kenntnis entzogen, dir zum damaligen Zeitpunkt zur Kenntnis gelangt oder deine Beteiligung an der Durchführung derselben verlangt worden wäre, es ja eine Befehlskette gegeben habe, an deren unteren Ende du gestanden und der dich zu widersetzen du keine Möglichkeiten gehabt habest.

Ich weiß noch, wie traurig du warst, weil die Rosen vor deinem Bungalow in Dallas einfach nicht gedeihen wollten. Bei mir gedeihen sie wunderbar. Ich habe ihnen Namen gegeben. Einer meiner Rosenstöcke trägt den Namen eines Wehrmachtsangehörigen. Lass mich dir erzählen, warum.

Im Herbst 1942 macht Major Hans Lüters, Kommandeur des Polizeibataillons 41, eine Meldung an seinen Vorgesetzten. Im Vorbeifahren hat er am Straßenrand Menschen liegen sehen, darunter Frauen und Kinder, erschossen und verwundet, ein `Hasenschießen´ auf Juden,  veranstaltet von  fahrenden Fahrzeugen aus, ohne dass man sich um die Angeschossenen weiter gekümmert hätte. Er sieht dieses Massaker durch keine Kriegs- oder sonstigen Notwendigkeiten gerechtfertigt. Er ist nicht bereit, weiter zu schweigen. Weiter Vorgehen zu dulden, die immer wieder auch damals gültigem Recht widersprechen. Weiter den Zynismus auszuhalten, mit dem die Erschießung wehrloser Menschen als `Hasenschießen´ etikettiert wird. Den Zynismus, der diese Willkürerschießungen duldet und mit Falschmeldungen deckt. Mit Falschmeldungen, die von `auf der Flucht Erschossenen´ sprechen, wo Frauen und Kinder im Vorbeifahren zu lebenden Zielscheiben erklärt werden. Er räumt ein, dass unter den gegebenen Verhältnissen im Einzelfall der Begriff `auf der Flucht´ erschossen als Notlüge zum Einsatz kommen kann. Was er nicht mitzutragen bereit ist, ist die Fülle der in voller Kenntnis der wahren Tatsache geduldeten gleichlautenden Meldungen. Nicht mitzutragen angesichts dessen, was es für die Zukunft bedeutet, wenn Menschen, die am untersten Ende der Befehlskette stehen, keinen Maßstab mehr dafür haben, wann eine Falschmeldung die Duldung ihrer Vorgesetzten findet und wann nicht. „Wenn man bedenkt“, so meldet Major Hans Lüters, Kommandeur Polizeibataillon 41, Lublin, angesichts  erschossener und verwundeter Juden, Frauen und Kinder am Straßenrand, „dass derartig brutale Menschen, die jeden moralischen Maßstab verloren haben, sich in unseren Reihen befinden und später einmal wieder in die Heimat unter anständigen Deutschen leben sollen, so kommen einem berechtigte Zweifel an solcher Möglichkeit.“  So meldet Major Hans Lüters, der sich der Rechtsbeugung im Interesse nationalsozialistischer Volkstumspolitik nicht beugen will. Von dir ist mir keine derartige Meldung bekannt. Hans Lüters verdanke ich das Wissen, dass sie möglich gewesen wäre.“

Auszug aus: Christine Koschmieder: Trümmerfrauen. Ein Heimatroman (Edition Nautilus, Hamburg 2020)

Quellen zur „Aktion Erntefest“:

Bildquellen: www.HolocaustResearchProject.org, http://deathcamps.org/, Archiv Stefan Klemp

Beschlagwortet mit: