Was bei Mein Freund Harvey ein zwei Meter großer, weißer, unsichtbarer Hase ist, ist für Nivedita, die Protagonistin in Mithu Sanyals Roman „Identitti“ (Hanser Verlag 2021) die blauhäutige Göttin Kali. Mit Kali hält Nivedita Zwiegespräche über all die Dinge, die ihr in dieser Welt zu viel werden oder suspekt sind. Und das sind ziemlich viele, wenn eine nicht die Inderin vom Dienst sein will und noch dazu Postcolonial Studies bei einer Professorin studiert, die die Identitätsdebatte prägt wie keine Zweite. Aber Nivedita hat nicht nur eine blauhäutige Göttin und eine Person of Colour (POC) zur Professorin, Nivedita bloggt auch.
Natürlich wird Niveditas Herkunft im Roman eine Rolle spielen und nicht umsonst ist der Name, unter dem sie bloggt – „Identitti“ – eine Verballhornung von Identität. Wir leben in postironischen Zeiten, in denen der Hashtag vor einem Begriff den Begriff selbst von jeder Ironie reinwäscht. Aber vielleicht ist der Name ihres Blogs auch nur Konsequenz des Galgenhumors, den eine braucht, um mit der Mehrheitsgesellschaft klarzukommen, vor allem mit dem Teil der Mehrheitsgesellschaft, der für sich in Anspruch nimmt, „woke“ zu sein, jeden Rassismus von sich weist und trotzdem so gerne nach der Inderin in Nivedita sucht.
Das Schöne ist, dass ich all das nicht über Nivedita wissen muss, um sie zu mögen. Ich mag sie nämlich schon, als sie sich gleich anfangs Informationen, die sie nicht vergessen will, auf den Unterarm schreibt. Mehr brauche ich (vorerst) nicht, um mit dieser Protagonistin mitzugehen.
Und das ist wichtig, denn das Mitgehen spielt eine wesentliche Rolle in Mithu Sanyals Roman. Wer geht unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen mit wem mit und wie weit. Und ab wann nicht mehr. Denn am Anfang gehen sie alle mit, oder besser noch, sie laufen ihr hinterher und hängen ihr an den Lippen: Niveditas angebeteter Professorin, Star der internationalen Identitätsdiskurse, verehrt von ihren Studierenden, die sich von ihr Orientierung, Klarheit und ja, auch Pride hinsichtlich ihrer eigenen Identitäten erhoffen. Sie ist ja auch zu gut, um wahr zu sein, diese Professorin, die sich Saraswati nennt, und die ich mir vorstelle wie eine Mischung aus Susan Sontag, Camille Paglia und Angela Davis. Und dann stellt sich raus, dass sie tatsächlich zu gut war, um wahr zu sein: Ihr Name, eine Fiktion, ihre Identität als POC, eine Fiktion, ihre Glaubwürdigkeit, dahin. Saraswati, die Teil ihrer Credibility daraus bezogen hat, als Person of Colour gehandelt zu werden, erweist sich als DIY-POC.
Aber entwertet die falsche Etikettierung, unter der sie sich verkauft hat, damit auch die Gültigkeit ihrer Lehre, ihrer Thesen, dessen, was sie ihren Studierenden vermittelt hat? Ein erbitterter Kampf um Deutungshoheit setzt ein, im Netz, auf den Social Media Kanälen, aber eben auch im echten Leben, in dem Nivedita und ihre KomilitonInnen mit den echten Konsequenzen der „falschen“ Saraswati umzugehen versuchen.
Wie gut, dass nicht nur Nivedita, sondern auch Mithu Sanyal ausreichend Humor haben, damit dieser Roman nicht um die Ecke kommt wie das gutgemeinte erste Vollkorngebäck der 80er Jahre. Geschmeckt haben sie dem Bewusstsein, nicht dem Bauch. Mithu Sanyal tut alles (und vielleicht hat auch Kali ein paar ihrer zahlreichen Hände im Spiel), ihre Figuren nicht zu Klappmaulpuppen zu degradieren, denen sie die aktuellen Positionen zu Identität, Rassismus, Race & Gender in den Mund legt. Aber auch, wenn „Identitti“ keine fiktionalisierte Einführung in aktuelle Identitätsdiskurse ist, setzt der Roman zumindest ein Interesse daran und die Vertrautheit mit den gängigsten Begriffen und Konfliktlinien voraus. Nicht nur poppen die Stichworte, Querverweise und Referenzen auf wie Bockshornkleesamen in heißem Kokosfett, sondern auch die Illusion von der eigenen Wokeness wird einmal kräftig durchgeschüttelt. Stichwort Rassismus, der blinde Fleck auf der eigenen Landkarte.
„Wie die meisten Leute ging auch Nivedita davon aus, es handle sich dann um Rassismus, wenn jemand auf der Straße auf sie zukäme und sagte:`Ich werde dich jetzt wegen deiner Hautfarbe beleidigen/anderweitig abwerten/zusammenschlagen.´ Deshalb fand sie es so schwierig, sich sicher zu sein, ob eine Aussage/Handlung/Unterlassung wirklich Rassismus war. Wirklicher, richtiger Rassismus. Und das dann auch noch anderen Menschen zu erklären.“
Denn wie kommt es, dass mir die Referenzen wie Bockshornkleesamen aus dem Kokosfett um die Ohren fliegen, wenn die Autorin Mithu Sanyal heißt, und nicht wie Wacholderkörner aus dem Sauerkraut zum Kassler? Wer sich nicht mindestens fünfmal selbst ertappt im Verlauf der Romanlektüre, dem entgeht etwas ganz Wesentliches. Selten kam die notwendige Forderung „Check your Privilege“ mit so viel liebevoller Ironie rüber wie bei Mithu Sanyal. Auch, wenn die berechtigte Forderung, sich den eben nicht naturgegebenen, sondern man-made Privilegien zu stellen, den hässlichen kleinen Alltagsrassismus im eigenen Sprachgebrauch oder Verhalten aufzuspüren, natürlich keiner Ironie bedürfen und schon gar nicht liebevoll gestellt werden müssen.
„Bisher gab es drei Wahrheiten in meinem Leben: 1. Kapitalism kills 2. Books can save our soul 3. Saraswati is one of us. – Keine Ahnung, warum Wahrheiten wahrer erscheinen, wenn sie auf Englisch sind.“
Keine Ahnung, warum Wahrheiten erträglicher werden, wenn sie mit Humor vermittelt werden. Keine Ahnung, was die Wahrheiten und Erfahrungen einer „Identitti“ mit den Wahrheiten und Erfahrungen von Werktätigen zu tun haben, die zu DDR-Zeiten auf der Schiffswerft Georg Placke oder im Magnesitwerk Aken gearbeitet haben, zu tun haben. Aber einladen würde ich Mithu Sanyal gerne zum ersten Aken Stories Festival, um über die Botschaft zu sprechen, die auch dann wirksam bleibt, wenn die, von der sie kommt, ihre Glaubwürdigkeit verloren hat.
„…das Gefühl, sie hätte das Recht, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Dass sie relevant war mit ihrer speziellen Geschichte, inmitten des speziellen Gewebes aus Umständen, das Gegenwart hieß, dass ihre spezielle Geschichte politisch war. Dass sie keinen Teil von sich verleugnen musste.“
