Wir brauchen ORTE

Im letzten August habe ich hier über meine Aufputz-Steckdosen geschrieben. Letzten August dachte ich, ab 2022 veranstalte ich hier in Aken Lesungen, Schreibworkshops, am besten gleich ein Literaturfestival. Ich habe viel gelernt im letzten Jahr. Über zu hohe Ansprüche, Selbstüberschätzung und die Unberechenbarkeit von Ausgleichsmasse, Lehmputz, Leinölfarbe und anderen Werkstoffen. Aber auch über die schöne Unberechenbarkeit menschlicher Begegnungen, Unterstützungsangebote und neuer Allianzen. Und so bin ich im Jahr 2021 viel weniger weit gekommen, als ich dachte. Und viel weiter, als ich dachte.

Diese beiden Bilder scheinen unendlich weit zurückzuliegen, der Fußboden noch voller Ausgleichmasse, die Wand gefleckt wie ein Kuhfell, ein Ende nicht abzusehen. Das war im Dezember 20 und mein Antrag auf einen Aufenthalt in einer Suchtklinik gerade bewilligt. Heute lese ich in die rohen, unverputzten Oberflächen meine eigene Verletzlichkeit zu diesem Zeitpunkt hinein. Meine Bereitschaft, lieber meine unverputzten Wände zu zeigen, als den Menschen, bei und mit denen ich künftig mein Leben verbringen möchte, zu erzählen, dass ich in eine Suchtklinik gehen werde. Heute, im Herbst 2022, lässt sich alles über diesen Aufenthalt und das Leben, das dazu geführt hat, nachlesen. Weil ich ein Buch darüber geschrieben habe.

Unabhängig, wie es sonst in meinem Leben oder auf meiner Baustelle aussieht: ich muss kochen können. Also war die Küche einer der zentralen Orte und ihre Bewirtschaftung in all dem Chaos um mich herum entscheidend. Also habe ich entgegen anderslautender Ratschläge die weißen Kacheln schwarz gestrichen, altes DDR-Besteck bei Ebay ersteigert, ein Guckloch in die Wand zwischen Küche und Restraum gehauen und im Antik- und Trödelmarkt in Dessau alte Vorratsgläser gekauft. Und auch, wenn sich Besteck bei Ebay per Klick ersteigern lässt, verbinde ich doch mit diesen Dingen inzwischen nicht allein ihren Gebrauchs- oder Dekorationswert, sondern vor allem, dass sie mich Orte haben aufsuchen lassen. Den Raiffeisen Markt in Aken, Old Krempel in Dessau, den Designshop im Bauhausgebäude, den Ebay-Kleinanzeigen-Verkäufer in der Helmut-Kohl-Straße in Dessau. Diese Orte sind Markierungen auf (m)einer neuen Landkarte.

Und dann kam die Farbe zurück. Was für ein schöner psychologischer Taschenspielertrick, es so darzustellen: Baustelle, alles Schwarz-Weiß, Frau geht in Suchtklinik, kommt zurück und ab dann wird alles bunt. Nee, so war´s natürlich nicht. Die Farbobsession war schon immer da, genau wie das Bedürfnis, dem Leben, egal wie schwarz, grau oder trüb, immer auch ein bisschen Rosa, Orange und Glanz abzutrotzen. Die Farbphase hat viele Farbschlieren den Badewannenausguss hinabfließen sehen.

Weihnachten auf der Baustelle zu feiern, hat sich mein Weihnachtsfeierkollektiv 2021 noch geweigert. Aber Ostern 2022 war die Baustelle dann erstmals nicht mehr nur Baustelle, sondern auch der Ort, an dem Eier ausgepustet und Osterküken aufgestellt wurden und zum Eierfärben Johnny Cash auf dem Plattenspieler lief. Und erneut die Erkenntnis, die sich eigentlich erst jetzt einstellt, da ich die Auswahl der Bilder treffe, die ich hier zeige: dass es nicht so sehr die Farbgestaltung und die Schönheit der Eier und der Wände ist, die diesen Ort ausmacht. Sondern die Tatsache, dass es ein Ort ist, an den meine Kinder und diejenigen, die sie sich für ihr Leben ausgesucht haben, gerne kommen, an dem sie sich aufhalten, an dem wir albern sind und lachen und Johnny Cash hören. Aber auch genauso gut schweigend herum- und unseren Gedanken nachhängen können.

Und dann hab ich doch allmählich mal angefangen, meine Fühler auszustrecken und am Leben in Aken teilzuhaben, das außerhalb von Baumärkten und Baustoffhandel und Bauschuttentsoprgung stattfindet. Zum Beispiel auf der ehemaligen Schiffswerft, die ich schon seit Jahren beim Spaziergehen umkreise und das Gelände sehnsüchtig beäuge. Irgendwann gegen Ende 2020 sind mir dann erstmals die Bauwägen, Container und Bullis aufgefallen, die da plötzlich rumstehen. Aber es hat noch bis August 2022 gebraucht, bis ich es zum Tag der Offenen Tür von „Werftvolle Zukunft e.V.“ geschafft habe, die das Gelände jetzt bewirtschaften.

Wir sind eine Gruppe von Freund*innen, Mitbewohner*innen, Geschwister, Partner*innen, die maximale Selbstbestimmung und Autonomie anstreben. In der praktischen Umsetzung bedeutet das für uns, bezahlbaren Wohn- und Arbeitsraum für uns und Andere zu schaffen. Wir sind unhierarchisch organisiert als eingetragener Verein, dem auch das Grundstück gehört. (…) Unsere Projekte sind geprägt durch Handwerk, Kultur und einer gesunden Portion Improvisation.

Ich muss das Rad nicht immer neu erfinden. Und schon gar nicht im Alleingang. An den meisten Orten finden sich Menschen, Institutionen und Kollektive, die schon dran sind am Nachdenken über andere Modelle des Lebens, Arbeitens, Wirtschaftens. Ich muss keinen eigenen Ort mitbringen, keinen fertigen neuen Gesellschaftsvertrag, ich muss noch nicht einmal meine Baustelle fertig renoviert haben, bevor ich mit Menschen das Gespräch suche. Sie sind nämlich schon da. Und manchmal klopfen sie sogar mit Krücken an mein Fenster, um auf sich aufmerksam zu machen und mich in Aken willkommen zu heißen. Oder helfen mir auf dem Schrottplatz in Kleinzerbst, sperriges Altlinoleum in den Container zu schmeißen. Und laden mich hinterher zu einem Hundespaziergang an der Elbe ein. Keiner dieser Menschen hat mich vorher gefragt, was ich zu bieten habe, welche Mitgift ich mit in die Aken-Ehe einbringe.

Und so schleife und öle ich im Sommer 2022 endlich auch die Dielen im Obergeschoss, lackiere das Treppengeländer und streiche den Verschlag im Treppenhaus, der seit meinem Einzug Umzugskisten mit Bettwäsche, noch nicht aufgehängte Lampenschirme, den Baustaubsauger und Fotoalben verstaut und verborgen hat, und jetzt endlich zum begehbaren Kleiderschrank aufgestiegen ist. Ich bin seit anderthalb Jahren aus der Klinik zurück, ich trinke seit anderthalb Jahren nicht mehr, ich schaffe es mal besser, mal schlechter, die monatliche Darlehensablösung für den Hauskauf zu zahlen, und ich habe wie so viele Angst vor dem Krieg und der Heizkostenexplosion, und wie ich den Winter mit einer veralteten Gastherme überleben soll. Aber ich weiß auch, dass, solange ich weder den Krieg noch den Kapitalismus noch die AfD und den Rechtsextremismus mit Worten besiegen kann, Orte entscheidend sind. Orte, an denen sich über diese Dinge nachdenken lässt, an denen Menschen willkommen sind, das gemeinsam zu tun, Orte, die einen alternativen Versammlungsort bieten zu den Straßen und den Montagsdemonstrationen und der Verbreitung von viel zu viel falschen Lösungen für die tatsächlich existierenden Probleme. Und so tue ich noch eines, bis ich dazu komme, mich hierhinzusetzen und all das aufzuschreiben: ich reize meinen Überziehungskredit aus (weil ein Kreditinstitut es viel eher verkraften kann, von mir nicht bedient zu werden, als Menschen, zu frieren), ergattere die letzten beiden in Sachsen-Anhalt verfügbaren Kaminöfen im Toom Baumarkt Wittenberg und lasse mir 4 Schüttraummeter Brennholz vor die Haustür kippen, die ich in einem ausgemusterten Weidenwäschekorb durch den Flur in den Hof und ins Obergeschoss schleppe. Um mir hinterher von einer Umrechnungstabelle ausrechnen zu lassen, dass Kilo 4 SRM Birkenholz in etwa 1.250 kg entsprechen.

Der Ort ist da. Der Ort ist bunt. Wir werden nicht frieren. Jetzt ist Platz für die weiteren Fragen. Und für die, die darüber nachdenken wollen. Bis dahin gilt:

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